Und jetzt? Lernen aus der Coronakrise

17. Jul 2020 | Aktualität

Vor vier Monaten hat der Bundesrat in der Schweiz den Lockdown angeordnet. In den letzten sechs Wochen wurden die Massnahmen schrittweise gelockert. Mit der Öffnung von Wirtschaft und Gesellschaft merke ich, dass auch mein Kopf wieder freier wird. Ein guter Moment also, um zurück zu blicken und erste Schlüsse für die Zukunft zu ziehen.

Nach einer kurzen Schockstarre hat mir die Krise das Privileg gewährt, unzählige Gespräche mit Expertinnen und Experten aus meinem Netzwerk zu führen, und den Auswirkungen der Coronakrise auf nachhaltige Entwicklung aus den unterschiedlichsten Perspektiven auf die Spur zu kommen. Zwei Punkte wurden mir dabei bewusst: Erstens, die Fülle an Expertise ist gewaltig! Zweitens, die Bereitschaft, sich meinen Fragen zu stellen und gemeinsam herauszufinden, was das neue Coronavirus mit uns, unserer Gesellschaft und unserer Vision einer nachhaltigen Zukunft macht, war enorm.

Im Folgenden versuche ich, die vielfältigen Beobachtungen, Analysen und Hypothesen meiner Kolleginnen und Kollegen zusammenzufassen und erste Schlussfolgerungen für eine nachhaltige Gesellschaft zu ziehen.

Wer die Arbeit leistet hat nicht die Macht

Gleich zu Beginn der Krise trat ein zentraler Widerspruch unserer Gesellschaft offen zu Tage: Politische und wirtschaftliche Macht liegt nicht bei den Menschen, die die systemrelevante Arbeit leisten. Im Gegenteil: Wer uns pflegt, für uns putzt, uns mit Lebensmitteln versorgt oder unseren Müll entsorgt, sicherte in der Krise unsere Lebensqualität. Während ich geschützt im Homeoffice sass, setzten sie sich dem Risiko einer Ansteckung aus. Und mussten gleichzeitig für ihre Rechte kämpfen. Sei es, um betrieblichen Gesundheitsschutz durchzusetzen oder sich gegen eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen zu wehren. Frauen, Migrant*innen und prekär Lebende sind in diesen Jobs übervertreten. Untervertreten sind sie jedoch in den Gremien, welche die politischen und wirtschaftlichen Entscheide fällen, sei es in der Politik oder in der beratenden Covid-19 Science Task Force.

Auf globaler Ebene ein ähnliches Bild: auf den grossen Baustellen, in der Landwirtschaft oder Hausarbeit werden Millionen Arbeitsmigrant*innen zu oft prekären Bedingungen angestellt. Auch im Tourismus sind viele im sogenannten «informellen» Sektor ohne soziale Absicherung beschäftigt. Millionen Menschen leben von der Hand in den Mund. In der Textilindustrie verloren mehr als eine Million Beschäftigte ihren Job, weil die grossen Marken bereits produzierte Kleidung nicht bezahlen wollten. Anstatt ihnen allen einen angemessenen Lohn und Arbeitsschutz zu bieten, lässt man sie in der Krise fallen. Ein Wirtschaftsmodell, das dermassen auf Ausbeutung beruht, kann nicht nachhaltig sein.

Die Krise als Chance?

In vielen Gesprächen wurden rasch erste Lehren aus der Coronakrise gezogen. Dabei geht es nicht darum, die Krise als Chance zu verstehen, sondern vielmehr darum, den Imperativ in der Krise zu begreifen: Angesichts der multiplen Krisen von Klimaerhitzung, Biodiversitätsverlust oder Pandemie müssen wir nun die richtigen Lehren ziehen, um eine zukunftstaugliche und krisenfeste Gesellschaft zu schaffen. Hier mein erster Versuch, Lehren aus der Krise zu formulieren:

  1. Vor Covid-19 sind wir nicht alle gleich. Wer bereits unter prekären Bedingungen lebt und keinen Zugang zu ausreichend Ressourcen hat, den trifft die Krise am härtesten. Die verletzlichsten Gruppen werden unter dem Virus und seinen wirtschaftlichen Folgen am meisten leiden. Es ist vor allem eine Krise der weniger Privilegierten. Die Krise verstärkt bestehende strukturelle Probleme und Ungleichheiten. Menschen, die keinerlei finanziellen Spielraum haben, können die Krise nicht aussitzen, sie verfügen über kein finanzielles Polster. Besonders betroffen sind in der Schweiz etwa Sans-Papiers, die auch keinen Zugang zu Sozialhilfe haben.
  2. Die Handlungsspielräume sind weitaus grösser, als wir glauben. Die Politik hat drastische Massnahmen ergriffen und massiv Gelder mobilisiert. Firmen der Maschinenindustrie haben innerhalb von wenigen Tagen ihre Produktion umgestellt und produzierten Schutzmasken. Als Individuum habe ich mein Verhalten von einem Tag auf den anderen geändert. Die Krise hat gezeigt: es geht auch anders! Das heisst, dass wir auch unserer Fantasie Raum geben und eine neue, eine andere Zukunft denken müssen.
  3. Die Achtung der Menschenrechte darf sich nicht auf gute Zeiten beschränken! Die Internationale Arbeitsorganisation ILO fordert schon seit Jahrzehnten die Durchsetzung menschenwürdiger Arbeitsbedingungen. Der Schutz von Frauen vor häuslicher Gewalt oder der Zugang zu Information für alle sind rechtliche Verpflichtungen, die auch von der Schweiz eingehalten werden müssen. Gerade in Krisensituationen ist deren Einhaltung essenziell, um die Menschen zu schützen. Aber gerade in Krisensituationen ist das Risiko am grössten, dass sie nicht eingehalten werden.
  4. Auf die Wissenschaft hören lohnt sich! Angesichts der Pandemie waren wir bereit, auf die Wissenschaft zu hören, auch wenn anfangs die Wissenslücken noch gross waren. In einer Krisensituation müssen wir Entscheide oft in einem Kontext von Unsicherheiten und fehlendem Wissen treffen. Als lernende Gesellschaft dürfen wir auch Fehler machen. Allerdings muss Kritik zugelassen werden, um Fehler frühzeitig zu erkennen und Fehlentscheide entsprechend korrigieren zu können.
  5. Der Staat spielt eine zentrale Rolle bei der Gesundheitsvorsorge und -versorgung. Dafür braucht er die notwendigen Ressourcen. Um seine Funktion gut wahrnehmen zu können ist er aber auch auf Vertrauen seitens Bürger*innen angewiesen und muss entsprechend auf verständliche, transparente und verhältnismässige Massnahmen setzen.
  6. Wir müssen in Zusammenhängen denken! Die Coronakrise hat uns gezeigt, dass Biodiversität, Tierwohl und Gesundheit zusammenhängen. Eine Krise kann nicht isoliert gelöst werden, sie muss im systemischen Kontext und global angegangen werden. Die Krise ist erst gebändigt, wenn sie weltweit unter Kontrolle ist.
  7. Resilienz! Ein wichtiges Wort hat seinen Weg in den allgemeinen Wortschatz gefunden. Resiliente Gesellschaften sind krisenfester und nachhaltiger. Die Coronakrise hat gezeigt, welche Elemente wichtig sind, um angesichts einer Krise Stabilität wahren zu können. Zentral ist ein Staat, der ausreichend Ressourcen hat, um die Grundbedürfnisse seiner Bevölkerung zu garantieren. Es braucht Vertrauen, in der Bevölkerung aber auch zwischen Staat und Bürger*innen. Eine lokal verankerte Zivilgesellschaft, die ergänzend solidarisch unterstützt. Menschen, die ihre Umwelt mitgestalten können. Und freie Medien, um Transparenz zu schaffen und kritische Fragen zu stellen. In der Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten oder Schutzmaterial gilt es, Abhängigkeiten zu vermeiden. Und lokale Versorgungsstrukturen in faire internationale Handelsbeziehungen einzubetten.

Und jetzt?

In UNO-Kreisen hat sich die letzten Wochen und Monate der Begriff «building back better» etabliert. Doch was wollen wir vom alten System überhaupt behalten? Der Titel der Agenda 2030 ist «Transforming our world». Transformation, und nicht Reparatur eines nicht nachhaltigen Systems, muss also das Ziel sein. Dazu sind auch Brüche notwendig. Die Coronakrise ist ein solcher Bruch. Anstatt die bereits totgeweihte fossile Wirtschaft künstlich am Leben zu halten, sollten wir nun direkt in zukunftstaugliche Sektoren investieren. Sparen wir uns den Umweg und gestalten direkt die nachhaltige Zukunft, die wir wollen. Damit dies gelingt, müssen folgende Elemente erfüllt sein:

  1. Wir müssen verstehen, was passiert ist und weiter passiert. Welche Bevölkerungsgruppe war wie betroffen von den getroffenen Massnahmen? Wie wurden Ressourcen und Macht während der Krise umverteilt? Wo entstehen neue Spannungsfelder? Wie können wir beispielsweise sicherstellen, dass das geänderte Freizeitverhalten der Schweizer*innen die Naturparks nicht übermässig strapaziert, sondern Tier und Umwelt weiterhin geschützt sind? Oder wie wägen wir die Chancen der Digitalisierung gegen das Risiko der Überwachung ab?
  2. Um sicherzustellen, dass die Rettungspakete nicht veraltete Prozesse und Strukturen erhalten oder sogar festigen, sondern eine nachhaltige Wirtschaft fördern, brauchen wir Kriterien. Dabei muss die Achtung der Menschenrechte, der Umwelt und der Klimaschutz ebenso dazu gehören wie der Übergang zu einem gerechten Steuersystem.
  3. Wir müssen aufhören, durch unsere aggressive Steuerpolitik anderen Ländern die notwendigen finanziellen Ressourcen zu entziehen, die für deren eigene, nachhaltige und krisenfeste Entwicklung notwendig sind.
  4. Wir brauchen klare Menschenrechtsverpflichtungen für Unternehmen sowie die Umsetzung der staatlichen menschenrechtlichen Verpflichtungen, beispielsweise bei Arbeitsrechten, Rechte von Frauen, Indigenen oder Menschen mit Behinderungen.
  5. Wir müssen global solidarisch handeln und global Verantwortung übernehmen. In der Schweiz mögen wir das neue Coronavirus in den Griff bekommen haben. Solange die Krise jedoch nicht weltweit unter Kontrolle ist, sind auch wir weiterhin verletzlich. Die Zustände in Flüchtlingslagern dürfen uns nicht egal sein. Und wir müssen uns dafür einsetzen, dass Medikamente und ein allfälliger Impfstoff für alle erhältlich sind.
  6. Wir müssen uns engagieren gegen Ausgrenzung und die Militarisierung der Gesellschaft, die mit der Kriegsrhetorik vieler Staatsmänner angesichts der Krise verstärkt wurde. Vertrauen macht Gesellschaften resilienter. Sie sind weniger anfällig für Hetze und Desinformation. Und sie beachten die angeordneten Massnahmen ohne Drohung und Gewaltanwendung.
  7. Wir müssen uns bei allen Massnahmen die Frage stellen: wer geht vergessen? Wen lassen wir zurück? So bedeutet zum Beispiel das Tragen von Masken für Gehörlose eine besondere Herausforderung, da die Mimik ein wichtiger Teil der Gebärdensprache ist. Durch die oft überstürzte Digitalisierung vertieft sich der digitale Graben. Entsprechend müssen wir Lösungen finden, die  Ungleichheiten zu reduzieren. «Leaving no one behind» ist das zentrale Leitmotiv der Agenda 2030. Und nur wenn wir sicherstellen, dass wir alle mitnehmen, erreichen wir tatsächlich eine inklusive, nachhaltige Gesellschaft.
Dominik Gross
Eva Schmassmann

Plattform Agenda 2030

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