Solidarität darf nicht Freiträume einschränken

16. Mai 2020 | Gastbeitrag

Interview mit Anna-Béatrice Schmaltz, Leiterin Kampagne “16 Tage gegen Gewalt an Frauen*”, cfd

Welche Auswirkungen hat COVID-19 auf nachhaltige Entwicklung? Die Plattform Agenda 2030 führt eine Reihe von Interviews mit Expertinnen und Experten aus unseren Mitgliederorganisationen.

Frauenberufe stehen wegen der Coronakrise verstärkt im Fokus der Öffentlichkeit. Es sind die meist schlecht bezahlten Berufe in der Pflege, an der Kasse, bei der Kinderbetreuung. Erleben sie grad eine Aufwertung?

Die Arbeitsbedingungen in diesen oft prekären Berufen wurden in den letzten Wochen tatsächlich oft thematisiert. Sie erhalten plötzlich von allen Seiten Dank und Applaus. Gleichzeitig haben sich die Arbeitsbedingungen teilweise nochmals verschlechtert: in der Pflege wurden die Schichtzeiten verlängert, Kinderkrippen wurden lange im Unklaren gelassen, ob sie finanzielle Unterstützung erhalten. Organisatorisch hatten sie einen massiven Mehraufwand zu stemmen.

Die aktuell ausgedrückte Solidarität ist beeindruckend. Allerdings habe ich auch beobachtet, dass sie ausgenutzt wird, um Räume einzuschränken. Kritik an den getroffenen Massnahmen wird mit dem Vorwurf begegnet, dass es um Menschenleben gehe und wir solidarisch zusammenhalten müssen. Doch Solidarität darf nicht bedeuten, dass es nicht mehr möglich ist, Kritik zu äussern. Der Bundesrat und alle Expert*innen befinden sich angesichts dieser ausserordentlichen Situation auf unbekanntem Gebiet und können in ihren Entscheiden Fehler machen. Wir müssen sie darauf hinweisen können, wenn sie Auswirkungen falsch einschätzen oder besonders verletzliche Gruppen vergessen gehen.

Frauenorganisationen kritisieren, dass das Risiko der häuslichen Gewalt zu lange ignoriert wurde. Wie schätzt Du die nun anlaufende Kampagne des Bundes dazu ein?

Dass der Lockdown ein Risikofaktor für häusliche Gewalt ist, da machten zuerst NGOs darauf aufmerksam. Gestiegene Fallzahlen aus anderen Ländern liessen hier die Alarmglocken schrillen. Bei den bundesrätlichen Massnahmen blieb diese Gefahr zuerst ausgeblendet. Es brauchte den Druck von Frauenhäusern und NGOs. Der Bundesrat hat dann eine Taskforce gegen häusliche Gewalt eingesetzt und will nun mit einer Plakatkampagne auf Anlaufstellen aufmerksam machen. Dass die Taskforce gebildet wurde ist wichtig und richtig. Es ist allerdings schade, dass sie so spät kommt und dass es die Coronakrise brauchte, um sie überhaupt einzusetzen. Denn häusliche Gewalt ist in der Schweiz mit täglich 53 registrierten Fällen auch in normalen Zeiten ein Problem. Es ist deshalb auch irritierend, dass so häufig darüber gesprochen wird, dass die Fallzahlen in der Schweiz bisher nicht gestiegen sind – sie sind grundsätzlich hoch.

Eigentlich sollte der Bundesrat bereits seit Inkrafttreten der Istanbul-Konvention 2018 ein 24-Stunden-Beratungsangebot auf die Beine stellen, das auch per Chat und Email zugänglich ist. Nun – in der Krise – zeigt sich, welchen Wert solche Angebote haben: sie bieten rund um die Uhr einen niederschwelligen Zugang zu Hilfe. Weil dies bislang fehlt müssen Betroffene nachts die Polizei einschalten. Dies ist eine enorme Hürde, die oft erst in Extremsituationen genommen wird.

Wo trifft die Coronakrise sonst noch Frauen besonders?

Wie stark mich eine Krise trifft hängt ja nicht nur von meinem Geschlecht ab, sondern noch von weiteren Faktoren wie Armut, Migrationsstatus oder Zugang zu Ressourcen. Die Krise ist in dem Sinn vor allem eine Krise der weniger Privilegierten und hat viel mit Machtverteilung zu tun. Die Menschen, die nun unter massivem Zeitdruck Entscheidungen fällen, verfügen über Privilegien und bedenken zu wenig, wie die Massnahmen Menschen ohne diese Privilegien treffen. Beim Homeschooling lässt sich dies gut beobachten: wie viele Computer hat eine Familie zur Verfügung, so dass die Eltern fürs Büro und die Kinder für die Schule arbeiten können? Wie viel Räume, um sich zur konzentrierten Arbeit zurück zu ziehen oder für Prüfungen zu lernen? Wie viel Betreuung kann geleistet werden? Die Krise verschärft also bestehende strukturelle Probleme.

Wenn wir nun die Wirtschaft wieder hochfahren, müssen wir uns die Frage stellen: wie können wir eine Wirtschaft bauen, die Ungleichheiten abbaut? Was nicht passieren darf ist, wichtige Projekte jetzt auf die lange Bank zu schieben und zu sagen, das können wir uns aktuell nicht leisten. Die Krise zeigt doch gerade, dass eine Vaterschaftszeit oder flächendeckende, bezahlbare Angebote der Frühbetreuung von Kindern dringend nötig sind, um die Benachteiligung von Müttern zu mindern. Und damit zu einer gerechteren und resilienteren Gesellschaft beizutragen.

Das Interview wurde von Eva Schmassmann geführt.

Weitere Informationen auf der Webseite des cfd:

Gewalt an Frauen* in Zeiten von Corona

Gemeinsam gegen die Krise

Anna Schmaltz
Anna-Béatrice Schmaltz

Leiterin Kampagne “16 Tage gegen Gewalt an Frauen*”, cfd

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