Kriegsrhetorik verstärkt die Remilitarisierung der Gesellschaften

16. Mai 2020 | Gastbeitrag

Interview mit Anna Leissing, Leiterin der Schweizer Plattform für Friedensförderung KOFF bei swisspeace

Welche Auswirkungen hat COVID-19 auf nachhaltige Entwicklung? Die Plattform Agenda 2030 führt eine Reihe von Interviews mit Expertinnen und Experten aus unseren Mitgliederorganisationen.

Welche Auswirkungen hat die Coronakrise in Konfliktgebieten und fragilen Kontexten?

In instabilen, von Gewalt geprägten Kontexten kommt es leider oft zu einer weiteren Eskalation von Konflikten und Gewalt. Die Krise verstärkt soziale Spannungen, Angst und Misstrauen in Gesellschaften, die bereits durch Krieg und Gewalt zerrüttet sind. Guatemala und Honduras sind Beispiele dafür. Sicherheitskräfte setzen bei der Durchsetzung von Ausgangssperren Gewalt ein. Ausgrenzung und Rassismus gegen Indigene, Gesundheitspersonal oder Geflüchtete blühen auf. Auch die häusliche Gewalt nimmt stark zu.

Gleichzeitig wird die Krise von vielen Konfliktparteien für ihre Interessen instrumentalisiert. So wird in Jemen für den Krieg mobilisiert, mit der Aussage, besser im Kampf sterben, als zuhause an Corona. In Libyen treten verschiedene bewaffnete Gruppierungen als de facto Polizei auf, die unter dem Vorwand der Durchsetzung von Hygienemassnahmen ihre Macht erweitern.

Auch Regierungen nutzen die Krise und verfolgen unter dem Deckmantel der Pandemiebekämpfung militärische und nationalistische Agenden. Es werden populistische, menschenverachtende, ja faschistische Positionen legitimiert. Die Grenzen des Sagbaren verschieben sich, Alte, Schwache und Andere werden ausgegrenzt und abgewertet. Diese Kriegsrhetorik angesichts der Coronakrise ist beängstigend und verstärkt eine Remilitarisierung von Räumen und Gesellschaften.

Welchen Beitrag kann die Friedenspolitik in der Coronakrise leisten?

In der Krise zeigt sich der Wert von funktionierenden staatlichen Institutionen und gesellschaftlichen Strukturen. Friedensförderung setzt genau hier an: Sie schafft Vertrauen zwischen Institutionen, Gesellschaften und Nachbar*innen, denn Vertrauen macht Gesellschaften resilienter. Sie sind weniger anfällig auf Desinformationen und Hetzkampagnen, beachten eher die Verhaltensregeln und unterstützen sich gegenseitig. Dabei spielen insbesondere lokal verankerte, zivilgesellschaftliche Organisationen eine entscheidende Rolle.

Deshalb ist es zentral, dass jetzt nicht alle Gelder für kurzfristige Hilfsprogramme abgezogen, sondern weiterhin auch langfristige Projekte unterstützt werden. Diese fördern Dialog und Vertrauen und tragen damit zu resilienteren Gesellschaften bei.

Bewährt hat sich dabei das Konzept der Konfliktsensitivität: Jede Massnahme muss daraufhin geprüft werden, ob sie einen Konflikt verschärft oder positiv zum Frieden beiträgt. Auch die Nothilfe in Krisengebieten, muss diese Fragen beantworten können, sonst schadet sie mehr, als sie nützt. Wer verteilt Hilfsgüter? Ist es das Militär? Eine Regierungspartei? Wer profitiert? Wer nicht?

Was braucht es ausserdem, um friedliche und inklusive Gesellschaften, und damit SDG 16 und die Agenda 2030 zu realisieren?

In Konfliktgebieten, wie auch in der Schweiz, zeigt die Krise deutlich, dass Militär, Waffen und Kampfjets keine Sicherheit bringen. Diese können wir nur erreichen, wenn die Grundbedürfnisse auf gesellschaftlicher Ebene abgedeckt sind. Dazu gehören Pflege, Kinderbetreuung, Ernährung. Der Wert dieser oft unbezahlten Care-Arbeit wird in der Krise besonders sichtbar. Sie ist ein essentieller Teil von Frieden und Sicherheit. Deshalb müssen wir uns die Frage stellen: Was braucht es, damit eine Gesellschaft funktioniert? Aber auch: Wer leistet diese Arbeit? Zurzeit sind es primär die Frauen, in der Schweiz insbesondere Migrantinnen oder Frauen mit tiefem Bildungs- und Lohnniveau. In der politischen Arbeit von Konfliktprävention und Friedensprozessen sind sie aber viel zu wenig präsent. Hier müssen wir ansetzen und SDG16 zu Frieden und Gerechtigkeit im Zusammenspiel mit anderen Zielen der Agenda 2030 umsetzen. Dadurch können wir nachhaltige innen- und aussenpolitische Grundlagen für Frieden und Sicherheit für Alle schaffen. 

Das Interview wurde von Eva Schmassmann geführt.

Bildnachweis: duncan c, Coronavirus graffiti, Leake Street. CC BY-NC

Anna Leissing
Anna Leissing

Leiterin der Schweizer Plattform für Friedensförderung KOFF bei swisspeace

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