Wir brauchen eine Aussenpolitik, die für Menschenrechte einsteht

22. Apr 2020 | Gastbeitrag

Interview mit Matthias Hui, humanrights.ch
Welche Auswirkungen hat COVID-19 auf nachhaltige Entwicklung? Die Plattform Agenda 2030 führt eine Reihe von Interviews mit Expertinnen und Experten aus unseren Mitgliederorganisationen.


Solidarität ist das Wort der Stunde. Wie beurteilst Du dies aus menschenrechtlicher Perspektive?

In den letzten Wochen sind jene Menschen, die in sogenannten «systemrelevanten Berufen» arbeiten, sichtbarer geworden. Sie, die nicht im sicheren Homeoffice sitzen können wie ich, sondern pflegen, putzen, uns versorgen, sich um andere sorgen und Müll entsorgen. Sie garantieren unser Leben, kommen aber – nicht nur jetzt in der Krise – nicht zu ihren wirtschaftlichen und sozialen Rechten. Diskriminierungen, auch punkto Lohn, erfahren insbesondere Frauen, Migrant*innen, prekär Lebende. In den genannten Berufen sind sie übervertreten. Die derzeit ausgedrückte Solidarität muss dazu genutzt werden, auch rechtlich für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. Im Bildungsbereich wird jetzt viel von Ungleichheit und Chancengerechtigkeit gesprochen. Wir merken: Wir haben im Lockdown sehr unterschiedliche Rahmenbedingungen, aber wir hängen voneinander ab. Wenn die einen nicht zu ihrem Recht kommen, betrifft das auch andere.

Unteilbarkeit und Universalität der Menschenrechte sind bei der Umsetzung der Agenda 2030 zentrale Anliegen. Insbesondere gilt: Nachhaltige Entwicklung muss für alle realisiert werden. Wir dürfen niemanden zurücklassen. Siehst Du hier eine Verbindung zu menschenrechtlichen Forderungen?

Definitiv. Wir müssen hinschauen, wer bei den bisherigen Corona-Massnahmen vergessen ging. Wie ergeht es Sans-Papiers, Wohnungslosen, Gefangenen, alleinerziehenden Müttern, unter Gewalt leidenden Frauen, Drogenabhängigen, Geflüchteten an der Grenze? Die Ziele der Agenda 2030, das Recht auf ein gutes Leben für alle und der Schutz der Lebensgrundlagen, können nicht erreicht werden, wenn einzelne Gruppen zurückgelassen werden, zuhause und weltweit. Im Moment beobachte ich bei vielen Menschen einen Lerneffekt. Sie realisieren, dass ihr Wohlbefinden auch davon abhängt, wie weit Menschenrechte für andere gelten. Wenn das Recht auf Gesundheit für Menschen in Flüchtlingslagern nicht gewährleistet ist, bleibt die Ansteckungsgefahr für alle grösser. Im Moment macht #LeaveNoOneBehind aus der Agenda 2030 Karriere: Mit dem Slogan wird die Forderung untermauert, dass die Geflüchteten auf den griechischen Inseln sofort evakuiert werden müssen. Auch in der Schweiz stehen sehr viele Menschen hinter dem Osterappell an den Bundesrat.

Der Fokus aktuell liegt bei vielen, auch bei den Medien, auf Entwicklungen im Inland. Wie beurteilst Du die Menschenrechts-Aussenpolitik der Schweiz angesichts der Coronakrise?

Die menschenrechtlich verantwortliche und weltweit solidarische Schweiz kommt an den Medienkonferenzen des Bundesrates nicht vor. So wie das EDA gegen aussen auftritt, scheint Aussenpolitik aus der Rückholaktion für gestrandete Schweizer*innen im Ausland zu bestehen. Im Hintergrund ist das EDA – etwa in der UNO oder der OSZE – durchaus aktiv, aber das merkt niemand. Bundesrat Cassis scheint praktisch abgetaucht zu sein, manchmal hört man ihn über Erfahrungen als Kantonsarzt sprechen oder zum Tessin. Hier kommt verschärft zum Ausdruck, was schon seit einiger Zeit angesagt ist: der Rückzug der schweizerischen Aussenpolitik auf die eigenen Interessen – Switzerland first.
Wir bräuchten jetzt eine Aussenpolitik, die die Entwicklungszusammenarbeit ausbaut, weil die globale Bekämpfung der Coronakrise auch davon abhängt, wie das Recht auf Gesundheit in Honduras und das Recht auf Arbeit in Burkina Faso durchgesetzt werden können. Eine Aussenpolitik, die sich für globale Steuergerechtigkeit einsetzt, damit auch andere Staaten Hilfspakete für die Wirtschaft, für die Bevölkerungen schnüren können. Eine Aussenpolitik, die sich wehrt, wenn autoritäre Regimes die gegenwärtige nationale Isolation nutzen, um grundlegende Menschenrechte weiter zurückzudrängen.

Das Interview wurde von Eva Schmassmann geführt.

Ergänzende Informationen:
humanrights.ch: Menschenrechtliche Konsequenzen der Corona-Krise (Aktueller Beitrag)
humanrights.ch: Die Schweiz und die Menschenrechte (Übersicht)

Matthias Hui

Koordinator NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz, humanrights.ch

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