Die Krise macht Machtverhältnisse in der Weltwirtschaft sichtbar

20. Apr 2020 | Gastbeitrag

Interview mit Chantal Peyer, Brot für alle
Welche Auswirkungen hat COVID-19 auf nachhaltige Entwicklung? Die Plattform Agenda 2030 führt eine Reihe von Interviews mit Expertinnen und Experten aus unseren Mitgliederorganisationen.


Aufgrund der Coronavirus-Pandemie befinden sich mehrere Wirtschaftssektoren in einem Stillstand, z.B. bleiben Geschäfte mit Waren, die nicht zum täglichen Bedarf gehören, geschlossen. Was sind die Konsequenzen für Lieferketten und Menschenrechte?

Die Auswirkungen der Krise auf die ärmsten Beschäftigten sind dramatisch, wie das Beispiel der Textilindustrie zeigt. Seit der Schliessung von Geschäften in Europa haben grosse Marken unter Berufung auf eine Situation höherer Gewalt laufende Bestellungen storniert. Infolgedessen verfügen die Fabriken in den Entwicklungsländern über riesige Lagerbestände an bereits produzierter Kleidung, für die die Marken nun nicht bezahlen wollen. Wenn ihnen das Geld ausgeht, sind diese Fabriken gezwungen, ihre Türen zu schliessen und Millionen von Arbeiterinnen und Arbeitern ohne Bezahlung oder Entschädigung nach Hause zu schicken. Allein in Bangladesch haben Fabriken nach drei Wochen der Pandemie die Annullierung von Aufträgen über 864 Millionen Kleidungsstücke im Wert von 2.81 Milliarden Dollar angekündigt. Und die Entlassung von mehr als einer Million Beschäftigten. Für diese Arbeiterinnen und Arbeiter bedeutet dies Hunger, Elend, permanenten Schulabbruch der Kinder und fehlenden Zugang zu medizinischer Versorgung.

Was verlangt die Schweizer Zivilgesellschaft angesichts dieser Situation?

Grosse Marken wie Benetton, H&M und Gucci müssen für bestellte und bereits hergestellte Waren bezahlen. Es geht nicht um Almosen, sondern einfach um die Einhaltung der Vertragsklauseln. Sie sollten auch einen Dialog mit ihren Zulieferern führen, um Notfallfonds zu schaffen, um den ärmsten Arbeiterinnen und Arbeitern zu helfen, die ohne jegliche Krankenversicherung oder Entschädigung entlassen wurden.

Diese Situation im Textilbereich spiegelt jedoch ein viel umfassenderes Problem wider: Grosse Unternehmen haben heute zwar eine Menschenrechtspolitik, setzen diese aber nicht um. Die Menschenrechte sind das Fundament, auf dem unser sozialer Zusammenhalt aufbaut, das Fundament, das die Achtung der Würde jedes Einzelnen garantiert. Die Achtung der Menschenrechte sollte sich nicht auf gute Zeiten beschränken. Deshalb engagieren sich Schweizer NGO für die Konzernverantwortungsinitiative, die seit mehreren Monaten im Parlament debattiert wird und im Herbst diesen Jahres dem Volk unterbreitet werden soll.

Wie würde eine nachhaltigere Wirtschaft der Zukunft aussehen?

Nach Ansicht der Internationalen Arbeitsorganisation stellt COVID 19 die grösste wirtschaftliche Herausforderung seit dem Zweiten Weltkrieg dar. Wir müssen uns heute die Frage stellen, wie wir auf diese Herausforderung reagieren können, während wir gleichzeitig die Achtung der Menschenrechte und der Umwelt in den Mittelpunkt der Konjunkturprogramme stellen.

Auf der individuellen Ebene müssen wir auch unser Konsumverhalten hinterfragen: Was brauchen wir wirklich und welche Art von Produkten wollen wir konsumieren? Die Schliessung von Geschäften hat zu grossen Solidaritätsbewegungen für lokale Handwerker und Produzenten geführt. Verschiedene unentgeltliche Plattformen, wie local-heroes.ch, wurden aufgebaut, damit kleine Geschäfte und Produzent*innen die Krise überleben können. Diese Reaktionen zeigen die Verbundenheit der Bevölkerung mit diesem lokalen sozialen und wirtschaftlichen Gefüge. Aus meiner Sicht werden aus diesem Gefüge innovative Projekte hervorgehen, um auf die Krise zu reagieren. Wir müssen der Fantasie der Bürger*innen wieder mehr Raum geben und die Muster und Abläufe der Vergangenheit nicht länger als die einzig möglichen akzeptieren.

Das Interview wurde von Mario Huber auf Französisch geführt.

Ergänzende Informationen:

Chantal Peyer

Teamleiterin «Ethisch Wirtschaften», Brot für alle

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