Schrumpfende zivilgesellschaftliche Handlungsräume in Kriegszeiten

10. Jun 2022 | Gastbeitrag

In Zeiten von Krieg ist das Verlassen des Hauses, um zum Briefkasten oder in die Bäckerei zu gehen, gefährlich. Es gibt keine Sicherheit, auch nicht in der unmittelbaren Nachbarschaft. Der Ukrainekrieg zeigt dies deutlich. Auch wo kein offener Krieg herrscht: Zunehmend werden friedenspolitische engagierte NGOs und kritische Medien in ihrer Rede- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt, aus dem öffentlichen Raum verdrängt, unsichtbar und sprachlos gemacht.

Die Bewegungsfreiheit ist ein wichtiges Gut, sie ist notwendig für Austausch und Vernetzung. Ihre Einschränkung und Kriminalisierung trifft das soziale Gefüge in seinem Innersten und schwächt die zivilen Kräfte massiv. In der Friedens- und Menschenrechtsarbeit ist das Thema angekommen, der politische Widerstand ist deutlich sichtbar, gerade der Begriff Menschenrechtsverteidiger:innen hat sich in den letzten Jahren etabliert als Markstein für die Darstellung von Menschenrechtsverletzungen. Das ist aber nicht genug. Viele Leute werden in ihrem Alltag massiv eingeschränkt und ihren Ressourcen beraubt. Raum für Einkäufe, Gesundheitschecks und Kontakte sind aufgrund des enormen Risikos, Ziel von Angriffen zu werden, limitiert. Doch weil diese Menschen kaum im Blickfeld von Politik und Öffentlichkeit sind, bleiben ihre Stimmen meist ungehört.

Was also verbirgt sich hinter dem Phänomen «shrinking civil space» und wohin führt dieser Trend, auch in friedlicheren Zeiten?

Die Bedeutung von zivilem öffentlichem Raum ist kontextabhängig, vage und vielfältig, je nach Rollen der Menschen in der Gesellschaft, nach Alltagsbedingungen, nach wirtschaftlichen Möglichkeiten. Daraus ergibt sich die Frage, wie und wer eingeschränkt wird und welche Gefahren durch das Überqueren von Grenzen bestehen. Die Einschränkungen sind zudem immer auch Ausdruck der herrschenden Machtverhältnisse, des Zustands demokratischer Strukturen.

Folgenreiche Einschränkungen

Einschränkungen in zivilen öffentlichen Räumen haben finanzielle, rechtliche, administrative und soziale Folgen. Sie bewirken psychische Trauma und kulturelle Brüche, sie unterwandern Netzwerke, die gerade für Frauen oft zentral sind, wenn sie ihren erwarteten Pflichten nachkommen sollen. So zeigt sich heute in der Ukraine, wie wichtig die Besuche von Freiwilligen sind, die unter Lebensgefahr zu Frauen gehen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, da sie wegen Sorgepflicht gegenüber ihren Nächsten an ihren Ort gebunden sind.

Mit der Unterstützung des Netzwerkes von FriedensFrauen Weltweit gelingt es Freiwilligen, Nothilfe zu leisten: Trinkwasser, Nahrungsmittel, Generatoren für Elektrizität oder Medikamente zu besorgen und verteilen. Der eingeschränkte Zugang nach draussen – zum Kaffeehaus oder Laden – erschwert den Kontakt zu anderen Menschen. Viele Betroffene leiden unter Einsamkeit, die Besuche der Nothilfe leistenden Freiwilligen ist oft der einzige Kontakt zur Aussenwelt.

Die Bevölkerung wird ins Schweigen verbannt. Die Räume für Austausch, wo Meinungsvielfalt zur Geltung käme, verschliessen sich. Diese Einschränkungen sind Ausdruck eines Machtmissbrauchs, eine Missachtung der menschlichen Würde mit nachhaltiger gesellschaftlicher Wirkung. Sie prägen die kulturellen Muster, die sozialen Beziehungen, das Denken und Handeln der Menschen schlechthin.

Eine Frau aus Luhansk sagte uns an einem der FrauenFriedensTische im September 2021, Gewalt, Missbrauch, Ausschluss seien Erfahrungen, die sich in ihren Köpfen verankert hätten. Ihre Kultur sei eine der Angst – eine Quelle von Misstrauen und Rückzug in die eigene Gedankenwelt. Sie verlieren ihr Recht auf Grundversorgung, aber auch auf sozialen Austausch.

Es ist das soziale dynamische Gefüge in unscheinbaren Räumen des Alltags, das von den Einschränkungen langfristig unterwandert wird. Diese Menschen werden – auch aus Angst als Verräter:innen disqualifiziert zu werden – zum Schweigen gebracht, nicht nur von Sicherheitskräften, auch von Nachbar:innen, Ladenbesitzer:innen, Familienmitgliedern.

Zugängliche Räume schaffen

Für uns sind solche Veränderungen schwer nachzuvollziehen, auch wenn wir darüber lesen, wenn sich die Zivilgesellschaft politisch dagegen engagiert, Demonstrationen organisiert, mit Resolutionen Druck «nach oben» ausübt, wenn unsere Parlamentarier:innen politische Vorstösse Einfluss üben. Dies gilt für viele von Gewalt gekennzeichnete Kontexte. Wir hören einzelnen Menschenrechtsaktivist:innen zu, empören uns. Dennoch, die Menschenrechtsverletzungen, welche die zivile Bevölkerung in umkämpften Regionen erlebt, bleiben oft unsichtbar, ungehört.

Als FriedensFrauen Weltweit sehen wir uns in der Pflicht, Räume zu öffnen, damit die unspektakulären Geschichten und Erfahrungen von Frauen in der umkämpften Region ans Licht kommen, damit ihre Stimmen gehört werden. Sie sind wichtige Zeuginnen der Grundrechtsverletzungen und ihren Folgen und es sind diese «kleinen» Geschichten, die für die Programme des Wiederaufbaus oder der Reparationen unerlässlich sind. Die vielfältigen Beschreibungen der Frauen, wie sie ihren Alltag meistern, das Engagement der vielen Netzwerke müssen gehört, gebündelt, geteilt werden. Es braucht alle Mittel, um den Raum für soziale Netze, nachbarschaftliche Solidarität und Austausch wieder zugänglich zu machen. Gerade für Frauen ist diese Forderung besonders zentral und das ist unsere Aufgabe.

Gleichzeitig sind wir aber selbst gefordert, auch in der Schweiz die Einschränkungen des öffentlichen Räumens wahrzunehmen und zu bekämpfen. (Video-) Überwachungen, Benutzungsordnungen für öffentliche Räume, Demonstrationsverbote, Wegweisungs- und Fernhaltungsverfügungen können einschneidende Massnahmen sein, welche Grundrechte von «abweichenden Individuen» einschränken.

In demokratischen Gesellschaften besteht immerhin die Möglichkeit, sich gegen solche Massnahmen auszusprechen, ohne viel zu riskieren. Der Trend ist aber auch in der Schweiz sichtbar: Die Sicherheitsindustrie wächst. Was in Kriegszeiten geschieht, ist die totale Zuspitzung, die umfassende Beschneidung der Rechte aller im öffentlichen, zivilen Raum. Dagegen wehren wir uns, auch mit den Stimmen der Frauen in der östlichen Ukraine.

 

Dieser Beitrag ist ursprünglich in à propos, dem Friedensmagazin von KOFF erschienen.

Portraitfoto von Annemarie Sancar
Annemarie Sancar

Programm- und Netwerkverantwortliche, FriedensFrauen Weltweit.

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