Armut, Arbeitslosigkeit und Hunger: Folgekrisen der Corona-Pandemie

27. Nov 2020 | Aktualität

Die weltweite Corona-Krise erschwert die Umsetzung der Agenda 2030 und der 17 SDGs in allen Ländern. Bereits Erreichtes droht verloren zu gehen, gemachte Fortschritte zerrinnen. Im Folgenden präsentieren wir eine erste Analyse, wie sich die Corona-Krise auf einzelne SDGs auswirkt, welche Tendenzen weltweit und in der Schweiz beobachtet werden. Wir verweisen dabei auf relevante Portale, die auch den weiteren Verlauf abbilden und wo jederzeit aktualisierte Information, Zahlen und Fakten gefunden werden können. Zum Abschluss dieser kleinen Serie wollen wir ein Fazit ziehen und die neue Fragilität reflektieren: Wie können wir die notwendigen Ressourcen so einsetzen, dass sie sowohl die SDGs voranbringen wie auch die Pandemie und deren Folgekrisen lindern? Wo sind Verlagerungen angesagt?

Die Corona-Pandemie stürzt den Planeten in die Krise 

Seit bald einem Jahr hat das Coronavirus die Welt im Griff: weltweit wurden bereits 46‘403‘652 Menschen (Stand 2.11.2020) infiziert und 1‘ 198 569 Menschen sind daran verstorben. In weniger als einem Jahr wurde die Weltwirtschaft in einen Schockzustand versetzt, von dem diese sich voraussichtlich erst 2022 erholen wird. Solange der Impfstoff noch nicht einsatzbereit ist, müssen Staaten zu nichtpharmakologischen Massnahmen greifen, um die Virusverbreitung so zu verlangsamen, dass der Zugang zur Gesundheitsversorgung für alle offen bleibt. Folge davon sind unzählige Grenz- und Schulschliessungen, die Verlagerung ins Homeoffice und ins Internet, sowie Einschränkungen gewisser Grundrechte, wie die Versammlungs- und Bewegungsfreiheit. Zudem löst die sinkende Nachfrage und die abgebremste Produktion einen Sinkflug beim Weltwirtschaftswachstum aus: 2020 wird das globale BIP voraussichtlich um 4.5% abnehmen (OECD). Trotz 1’400 Notkrediten, unzähligen Insolvenzstundungen, Kurzarbeit und weiteren Sozialplänen zum Erhalt von Stellen in über 144 Ländern, verursachen ein Teil der Schutzmassnahmen, die 169 Staaten insgesamt 11 Trillionen USD kosten, sogenannte «Folgekrisen»: wegen der Lockdowns steigt die Arbeitslosigkeit und die Anzahl Kinder und Jugendliche mit Lernlücken und Schulabbrüchen. Auch das Risiko der Unterernährung, der Armut und das Gewaltpotential im häuslichen Bereich nimmt zu. In dieser Abwärtsspirale drehen sich auch die globalen Nachhaltigkeitsziele, die SDGs. Die Pandemie macht der Agenda 2030 einen Strich durch die Rechnung. António Guterres, der UNO Generalsekretär, spricht von einer Dekade von Fortschritten beim Erreichen der SDGs, die «ausradiert» wurden.

Der Gesundheitsnotstand löst Folgekrisen aus: Armut, Arbeitslosigkeit und Hunger

Das Virus macht keinen Unterschied nach Status, Ausbildung, Beruf oder Wohnort. Und doch trifft es die Menschen je nach deren Ressourcen sehr unterschiedlich. Die Auswirkungen auf die Chancengerechtigkeit sind entsprechend tiefgreifend. Zu nennen sind die zunehmende Feminisierung der Hausarbeit und Kinderbetreuung (SDG 5 «Geschlechtergerechtigkeit»), der sich vertiefende digitale Graben unter den weltweit 1.25 Milliarden Schüler*innen, die von Schulschliessungen betroffen sind. Dem zentralen Grundsatz der Agenda 2030, nämlich niemanden zurück zu lassen (leave no one behind) kommt in der Krisenzeit mehr Bedeutung zu als je zuvor.  Es ist absolut verständlich, wenn zum Schutz der Gesundheit alle notwendigen Massnahmen ergriffen werden. In einer ersten Reaktion auf die Pandemie lag damit der Fokus auf dem SDG 3 «Gesundheit für alle». Trotzdem muss in der Pandemie der Zielkonflikt zwischen Produktivität und Arbeit (SDG 8) einerseits und dem Gesundheitsschutz (SDG 3) andrerseits neu verhandelt werden. Das ist angesichts der vielen Folgekrisen bei anderen SDGs aufwendig, für die noch nach Lösungen gesucht werden muss. Erhärtet ist der erschreckend steile Anstieg der Armut (SDG 1) und des Hungers (SDG 2). Oxfam errechnet, dass in Entwicklungsländern täglich mehr Menschen (12’000) den Hungertod sterben, als weltweit täglich an den Folgen von Covid-19 sterben (10’000).

Im Folgenden werden die Zahlen zu den einzelnen Folgekrisen von Covid-19 in drei SDGs global und für die Schweiz unterlegt:

SDG 1 setzt das Ziel, die extreme Armut bis 2030 zu eliminieren (Unterziel 1.1) und die nationale Armut zu halbieren (Unterziel 1.2). Durch die Corona-Krise steigt erstmals seit 30 Jahren der Anteil der Menschen in Armut: eine halbe Milliarde Menschen oder 8% der Weltbevölkerung wurden neu in die Armut gedrängt.

Die extreme Armut, d.h. die Anzahl Menschen, die mit einer Kaufkraft von weniger als 1.90 USD pro Tag auskommen müssen, ist um 40-149 Millionen Menschen angestiegen. Dies zusätzlich zu den bereits heute 689 Millionen in extremer Armut.

In der Schweiz entsteht die neue Armut im Tieflohnbereich, wo Lohneinbussen von 20% aufgrund der Kurzarbeit für armutsbetroffene Menschen empfindlich sind (BfS). Durch Covid-19 Hilfsmassnahmen werden Stellen zwar geschützt. Trotzdem erwartet die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) einen Anstieg der Sozialhilfe im Jahr 2022 um rund 28%.

SDG 8 verpflichtet, allen Menschen eine faire Beschäftigung zu schaffen (Unterziel 8.5). Trotz Kurzarbeit und Sozialplänen riskiert die Hälfte der 3.3 Milliarden Beschäftigten weltweit ihren Lebensunterhalt infolge der Corona-Krise zu verlieren (ILO, FAO, IFAD und WHO), denn nur für 22% gibt es soziale Auffangnetze.

In der Schweiz steigt im Vergleich zum Oktober 2019 die Arbeitslosenquote um fast 50% (BfS).

SDG 2 verpflichtet die Staaten, den Hunger zu beseitigen (Unterziel 2.1) und die Mangelernährung von Kindern zu stoppen (Unterziel 2.2). Doch das Coronavirus ist auch ein Hungervirus 2020 sind schon 7 Millionen Menschen an Hunger verstorben, verglichen mit einer Million Todesopfer durch Covid-19 (Oxfam).  

Vom Hungertod bedroht waren in den ersten Monaten von 2020 85 Millionen Menschen, heute sind es 135 Millionen und bis Jahresende könnten es 256 Millionen sein (FAO).

Verbindungen zwischen SDGs enger knüpfen, um aus der Krise zu finden

Es führt kein Weg aus der Corona-Krise am Vernetzungsgebots «do no harm» der Agenda 2030 vorbei. Denn wie eine Doppelhelix sind die SDGs und die Pandemie verknüpft. Das eine kann nicht ohne das andere gelöst werden. Sobald vermehrt in die Gesundheit investiert wird, muss sogleich auch bei der Armut, dem Hunger, der Arbeit, Bildung und der Geschlechtergerechtigkeit ausgeglichen werden. Deshalb muss die Politik und die Zivilgesellschaft auf die fragilen Verbindungen zwischen den einzelnen SDGs achten und diese sichtbar werden lassen. Ansonsten drohen Hunger, Schulabbrüche und Bildungslücken, Armut und Arbeitslosigkeit steigen an. Schliesslich sollen auch das Zusammenspiel zwischen den SDGs und den politischen und rechtlichen Ebenen, welche die SDGs umsetzen – lokal, regional und international – gewürdigt werden. Zudem sollte das Menschenrechtssystem stärker mit in die Umsetzung der SDGs gebunden werden.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass dies eine Gouvernanzfrage ist: Ressourcen müssen so eingesetzt werden, dass die Auswirkungen auf anverwandte/mitbetroffene SDGs ebenfalls positiv sind und somit Synergien geschaffen werden können. Beispielsweise leisten Massnahmen zum Offenhalten von Schulen und kostenloser ausserschulischer Betreuung sowie Schulmalzeiten nicht nur einen Beitrag zum SDG 4 (Zugang zu Bildung), sondern auch zu SDG 1 (Armut), SDG 2 (Hunger), SDG 5 (Geschlechtergerechtigkeit) und SDG 8 (nachhaltiges Wirtschaftswachstum).

Die Ressourcenfrage stellt sich dabei gleich zweifach: Erstens: wie können wir in der Krise die notwendigen Mittel mobilisieren? Welcher Spielraum besteht für zusätzliche Einnahmen? Und zweitens bedingt die Ressourcenfrage auch eine Verteilungsfrage: angesichts beschränkter Ressourcen können Entscheide neue Benachteiligungen und damit neue Armut schaffen. Auch hier muss der Grundsatz der Agenda 2030, «leave no one behind», als Richtlinie herangezogen werden: die Umsetzung der SDGs darf niemanden zurück lassen.

 

Bildnachweis: WHO Coronavirus Disease Dashboard (Stand:27.11.2020)

 

Dominik Gross
Marion Panizzon

Plattform Agenda 2030

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