Zwei Jahre Pandemie: Alles anders – alles gleich?

13. Apr 2022 | Gastbeitrag

Basierend auf Thesen, die der Autor zu Beginn der Pandemie verfasste, reflektiert Martin Leschhorn über die Folgen der Pandemie für die internationale Gesundheitszusammenarbeit, die Zukunft der Solidarität und globaler Gesundheitsinstitutionen.

Vor genau zwei Jahren habe ich zu Beginn der Pandemie in sieben Thesen versucht, die Konsequenzen der Pandemie auf die globale Gesundheit und die internationale Gesundheitszusammenarbeit abzuschätzen. Diese für den internen Gebrauch bestimmten Thesen habe ich damals verschiedenen nahestehenden Expert:innen zugestellt und ihre Überlegungen dazu eingeholt. Da wir nun – vielleicht, hoffentlich – eher am Ende der Pandemie stehen, respektive da diese Krise mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine völlig in den Hintergrund gedrängt wird, habe ich mir erlaubt, die Thesen wieder hervorzuholen und zu überprüfen.

Nicht eine Krise, sondern eine Mehrfachkrise

Ein Gesamtblick aus heutiger Perspektive zeigt zunächst eines: Wir leben in einer krisenhaften Zeit – und dies war wohl auch schon vor dem Ausbruch der Pandemie der Fall. Die Relevanz der Thesen – von allen damals befragten Personen als hoch, teilweise als sehr hoch eingestuft – relativiert sich angesichts des Krieges Russlands gegen die Ukraine. Dieser hat die globale Gesundheitskrise abgelöst, wie bereits die Pandemie die Krise der Klimaverschlechterung in den Hintergrund gedrängt hatte. Wir Menschen, unsere Gesellschaften wie auch unsere politischen Institutionen haben offensichtlich nur eine sehr beschränkte Fähigkeit mehr als eine Krise gleichzeitig zu denken, geschweige denn anzugehen – und mögen sie noch so miteinander in Zusammenhang stehen.

Mit der gegenwärtigen Erfahrung der Rückkehr des Krieges in Europa im Hinterkopf, blicke ich zurück auf die sieben Thesen aus dem März 2020: Diese lassen sich rund um die drei Themenbereiche Pandemie und Gesundheitssysteme (Thesen 1 & 6), die Zukunft der Solidarität (Thesen 2, 3 & 7) und die Auswirkungen auf die globale Gesundheit und ihre Institutionen (Thesen 3, 4, 5 & 7) gruppieren.

Die sieben Thesen aus dem Jahr 2020 im Überblick:

  1. Das systemische wird zur eigenen Erfahrung: Die Bedeutung von Gesundheitssystemstärkung und dabei die zentrale Rolle des Gesundheitspersonals sind in breiten Bevölkerungskreisen und den politischen Entscheidungsträger:innen stärker verankert.
  2. Grenzschliessungen und Solidaritätswellen: Rückkehr zum „Landigeist“ statt zu mehr internationaler Solidarität
  3. Sicherheit und Gesundheit: Internationale Gesundheitszusammenarbeit und globale Gesundheit gewinnen massiv an Relevanz, aber unter falschen Vorzeichen
  4. Globale Gesundheitsinstitutionen: Die Weltgesundheitsorganisation wird gestärkt aus der Corona-Krise hervorgehen
  5. Wirtschaftliche Rezession wird der Arbeit von Organisationen und Institutionen der internationalen Zusammenarbeit zusetzen
  6. Digitalisierung erlebt einen Boom: Das Risiko einer schädlichen Entwicklung wächst
  7. Covid-19-Verdrängungseffekt: Auf der Strecke bleiben für die gesundheitliche Zukunft bedeutende Schlüsselthemen
Gesundheitssystemstärkung und die Bedeutung des Gesundheitspersonals

Rückblickend mag dies nun wirklich keine gewagte These gewesen zu sein, dass die Gesundheitssystemstärkung und die Bedeutung des Gesundheitspersonals weltweit durch die Pandemie massiv an Relevanz gewinnen würden. Ich bin dabei davon ausgegangen, dass das «Systemische zur eigenen Erfahrung» und dabei eine stärkere politische Verankerung erhalten würde. Von den angefragten Expert:innen habe die meisten dem zwar zugestimmt, aber auch darauf hingewiesen, dass statt über systemische Stärkung mehr über Nothilfe gesprochen werden könnte. Und darauf gab es in der Tat auch einige Hinweise: Kapazitäten wurden zu Beginn der Pandemie hochgefahren, indem etwa in der Schweiz die Armee mit der Beschaffung von medizinischen Gütern beauftragt wurde und zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg ein Teil der Truppen mobilisiert worden sind.

Umgekehrt zeigte sich in Ländern wie Italien die Folgen von Austeritätsprogrammen, welche die Gesundheitsversorgung kaputtgespart hatten. Und auch in den später einsetzenden Debatten rund um die globalen Impfprogramme wurde deutlich, wie zentral für deren Implementierung funktionierende Gesundheitssysteme sind.

Politiker:innen in der Schweiz haben früh und richtigerweise beklagt, dass die Digitalisierung im Gesundheitswesen um Jahre im Hintertreffen, respektive schlicht nicht vorhanden sei (Datenübermittlung per Faxgeräte). Bei den in der Gesundheitskrise aufgebauten digitalen Systemen wie etwa der Swiss Covid-App, aber auch den elektronischen Zertifikaten waren meine Befürchtungen falsch, dass ein nun einsetzender Digitalisierungsschub rechtebasierte Überlegungen in den Hintergrund drängen würde. Diese digitalen Systeme wurden betreffend Persönlichkeitsschutz sehr sorgfältig entwickelt. Den Verantwortlichen war offenbar sehr bewusst, dass die Akzeptanz und damit die Effektivität dieser Systeme nur möglich sein würde, wenn der Persönlichkeitsschutz im Vordergrund steht. Dies lässt für eine notwendige Digitalisierung im Gesundheitswesen durchaus hoffen.

Sehr eindrücklich hat sich bewiesen, dass in der Bevölkerung das Bewusstsein über die hohe Bedeutung des Gesundheitspersonals gestärkt würde. Bereits im März 2020 hat einer der Expert:innen auf die These mit der Prognose reagiert, dass die Pandemie der Pflegeinitiative zum Durchbruch verhelfen werde. Eine Prognose, die sich eineinhalb Jahre später eindrücklich bestätigt hat. Mit Dauer der Pandemie verschwindet aber auch die Präsenz des Gesundheitspersonals in der öffentlichen Wahrnehmung und die Rücksichtnahme auf deren Befindlichkeit. Bei den jüngsten Lockerungsmassnahmen spielten Befürchtungen des Gesundheitspersonals einer weiteren hohen Belastung ausgesetzt zu sein, keine Rolle mehr.

Für die internationale Gesundheitszusammenarbeit und das Schweizer Engagement in der globalen Gesundheit folgt daraus, dass Gesundheitssystemstärkung wieder verstärkt als Priorität der internationalen Gesundheitszusammenarbeit an Bedeutung gewinnt. Die Schweiz hat mit der Pflegeinitiative im Rücken ein Mandat, sich innerhalb der WHO für eine stärkere Verbindlichkeit des WHO Kodexes zur Rekrutierung von Gesundheitspersonal einzusetzen (Leschhorn Strebel, M. 2022).

Die Zukunft der Solidarität

Die erste Phase der Pandemie war geprägt durch starke symbolhafte Zeichen der Solidarität. Dazu gehörte das Einkaufen für Risikogruppen, das Klatschen für das Pflegepersonal oder das Läuten der Kirchenglocken. Logisch also, dass sich in Zeiten, in welchen die Gemeinschaft gegenüber dem Individuum in den Vordergrund rückt, ein grundsätzlich recht optimistisches Bild der Solidarität ergibt. In den drei diesen Komplex reflektierenden Thesen wird aber auch eine Skepsis deutlich.

Diese Skepsis war einerseits durch die Erfahrung der Grenzschliessungen geprägt, welche die Solidarität quasi nationalsierte («Landigeist») und ein Wegrücken von einer internationalen Solidarität mit sich bringen könnte. Andererseits war die Auseinandersetzung mit der Solidarität auch durch einen in der globalen Gesundheit sich bereits stärker vertiefenden Diskurses geprägt, der das internationale Engagement für Gesundheit einer Regierung weniger aus dem Recht auf Gesundheit weltweit ableitete, sondern im Schutz der eigenen Bevölkerung begründete. Globale Gesundheit wird dadurch als Teil der Sicherheits- und nicht etwa der Menschenrechtspolitik verstanden.

Bis heute ist der Umgang mit der Pandemie in der internationalen Politik durch ein hohes Mass an Widersprüchlichkeiten geprägt. Die Länder des globalen Nordens zeigten sich als Weltmeister im Horten von Impfdosen und barmherziger Abgabe von Fehlbestellungen. Länder wie etwa Südafrika forderten zu Recht strukturelle Eingriffe, welche den Zugang zu medizinischen Produkten im Kampf gegen das Virus für alle zur Verfügung stellen sollten. Dazu zählte insbesondere auch die zeitweise Aufhebung des Patentschutzes. Während sich europäische Länder, darunter auch die Schweiz, damit schwertun, ist insbesondere seitens der USA diesbezüglich eine Flexibilität vorhanden, wie sie vor der Pandemie undenkbar gewesen wäre.

Die Dominanz nationaler Eigeninteressen gegenüber solidarischem Handeln erweist sich als ein grosses Hindernis in der Bekämpfung einer Pandemie. Diese Eigeninteressen müssen über multilaterale Regulationssysteme zurückgebunden werden. Der im Prozess der Aushandlung stehende Pandemic Treaty der WHO muss den dazu notwendigen Rahmen setzen. Weiter ist eine Dezentralisierung der Entwicklung und Herstellung von Wirkstoffen, Medikamenten und Medizinalprodukten notwendig, damit rasch auf künftige Krankheitsausbrüche reagiert werden kann. Die diesbezüglichen Ressourcen in Ländern niedrigen Einkommens müssen gestärkt werden.

Ebenfalls im Kontext der Debatte rund um die Solidarität ordne ich die siebte These ein, bei der ich im März 2020 befürchtete, dass bei der Bekämpfung von Covid-19 das weltweite Engagement für andere Gesundheitsthemen verdrängt würde. Es geht dabei um eine Art selektive Solidarität: Wir bekämpfen gemeinsam Covid-19, nehmen aber die dafür vorgesehenen Entwicklungsgelder aus Töpfen, die für andere Gesundheitsthemen vorgesehen sind. Bislang lässt sich dieser Verdrängungseffekt noch nicht feststellen. Die global mobilisierten Gelder im Kampf gegen die Pandemie waren praktisch ausschliesslich durch neue Gelder finanziert, wie der Financing Global Health-Bericht 2020 (Institute for Health Metrics and Evaluation – IHME, 2020) aufgezeigt hat. Es wird sich allerdings noch zeigen müssen, wie sich dies weiterentwickelt.

Meiner Meinung gibt es hier durchaus Grund zur Sorge: Angesichts eines Diskurses, der als Folge der Pandemie die globale Gesundheit immer stärker rund um den Komplex der Sicherheit strukturieren könnte, ist es durchaus denkbar, dass Ressourcen von vermeintlich «weichen» Gesundheitsthemen wie etwa der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte abgezogen werden könnten.

Globale Gesundheit und ihre Institutionen

Der Financing Global Health-Bericht 2020 zeigt eine weitere Tendenz, die Sorge bereiten muss. Die globalen Investitionen für Gesundheitssystemstärkung dümpeln seit Jahren bei 5%. Da weltweit keine Verbesserungen in der Gesundheit für alle möglich sein werden und eine effektive künftige Vermeidung von epidemischen und pandemischen Wellen nicht verhindert werden kann, wenn Gesundheitssysteme nicht stark genug sind, muss hier angesetzt werden.

Der Globale Fond zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria (GFATM) setzt in seiner Strategie eben da an und möchte in die Gesundheitssystemstärkung in den kommenden Jahren verstärkt investieren (Global Fund Strategy 2023-2028). Dies entbehrt nicht einer gewissen Ironie, hatte der GFATM zumindest in den ersten Jahren seiner Existenz durch seinen klaren krankheitsbezogenen, vertikalen Ansatz Gesundheitssysteme mehr geschwächt als gestärkt. In den vergangenen sechs Jahren haben allerdings gesundheitssystemstärkende Elemente seiner Arbeit eine immer stärkere werdende Rolle gespielt.

Basierend auf dieser neuen Strategie fordert der GFATM für die kommenden vier Jahre nun von den Regierungen eine massive Steigerung der finanziellen Mittel von 14 auf 18 Milliarden US-Dollars (Global Fund Seventh Replenishment 2022). Es wird interessant sein zu sehen, wie die Gebergemeinschaft auf diese Forderungen reagiert. Im Herbst wird die dazu notwendige Geberkonferenz mit den USA als Gastgeber stattfinden. Gut möglich, dass vor allem die US-Regierung mit hohen finanziellen Zusagen in die Verhandlungen geht. Damit könnte der GFATM als einer der institutionellen Gewinner aus der Pandemie hervorgehen.

Zu den Gewinnerinnen gehört sicherlich auch die globale Impfallianz (GAVI), deren Bedeutung in der globalen Gesundheit deutlich zugenommen hat. Symptomatisch dafür ist, dass sich in den letzten zwei Jahren auch die Schweiz erstmals mit namhaften Beiträgen an der GAVI beteiligt hat – aus Sondergeldern des Bundes zur Pandemiebekämpfung. Es wird interessant sein, zu sehen, ob diese Gelder in der Schweiz nun ins normale DEZA-Budget überführt werden – und zu wessen Lasten dies allenfalls geschieht.

Und die Weltgesundheitsorganisation (WHO)? Wird sie, wie ich unter These 4 vermutet habe, gestärkt aus der Pandemie hervorgehen? Nach anfänglichen Schwierigkeiten im Umgang mit China und disruptivem Verhalten der US-Regierung unter Präsident Donald Trump hat die WHO und ihr Generaldirektor schnell an Statur gewonnen und mit recht sicherer Hand durch die Pandemie geführt. Sie hat ihre Legitimität und Relevanz eindeutig gestärkt. Ob sie aber tatsächlich nachhaltig gestärkt ist, wird sich aber erst zeigen, wenn die Mitgliedsstaaten endlich auch bereit sind, die Organisation angemessen zu finanzieren.

Die blinden Flecken

Der Rückblick auf meine Thesen von 2020 machen deutlich, dass noch sehr viel im Fluss ist – insbesondere in zentralen Fragen, wie die der künftigen Finanzierung in der globalen Gesundheit, die von nachhaltigen Regulierungssystemen oder ob wir international bezüglich der Stärkung von Gesundheitssystemen wirklich vorankommen.

Noch überhaupt nicht auf dem Radar hatte ich im März 2020 die Bedeutung der Wissenschaft, worauf mich damals übrigens eine der Expertinnen auch aufmerksam gemacht hatte. Und noch nicht abschätzen konnte ich die disruptiven Tendenzen der staatsbürgerlichen Verfasstheit vieler Länder. Die Präsenz und Bedeutung von Verschwörungstheorien, der oft mangelhafte kritische Umgang mit den Medien und das schwache Wissen weiter Bevölkerungskreise wie Wissenschaft funktioniert, ist in den vergangenen zwei Jahren immer deutlicher zutage getreten. Dies muss uns für die Zukunft Sorge bereiten und sollte auch Thema in der internationalen Gesundheitszusammenarbeit werden.

Referenzen
Martin Leschhorn Strebel

Geschäftsführer Medicus Mundi Schweiz

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