Agenda 2030 und Gender

Leandra Bias, KOFF/Swisspeace | Regula Bühlmann, Schweizerischer Gewerkschaftsbund | Regula Kolar, NGO-Koordination post Beijing

Juni 2020

Geschlechtergleichstellung bringt nachhaltige Entwicklung in allen Dimensionen voran. Bestehende Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern erschweren hingegen die Realisierung nachhaltiger Entwicklung. Weltweit bestehen immer noch grosse Unterschiede zwischen den Geschlechtern, wenn es um die Verwirklichung der 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDGs) geht. So sind Frauen überproportional von Armut betroffen (SDG 1), Schwangerschaft und Geburt sind in vielen Länder ein zu hohes Risiko für Frauen (SDG 3), 15 Millionen Mädchen werden nicht eingeschult (SDG 4), Zugang zu Arbeit oder Erbschaft wird Frauen in zu vielen Ländern verwehrt, mindestens 200 Millionen Mädchen und Frauen sind Opfer von Genitalverstümmelung. Frauen sind weltweit in Parlamenten (23.7%) und Forschung (28.8%) stark untervertreten, leisten 2.6-mal mehr unbezahlte Pflege- und Betreuungsarbeit (Care-Arbeit) als Männer (SDG 5) und sind vom Klimawandel stärker betroffen (SDG 13). Sie ernten öfters Früchte von allgemein genutzten Allmenden und sind so besonders betroffen von Waldrodungen und forcierter intensiver Landwirtschaft (SDG 15). In Konflikten und Kriegen wird sexuelle Gewalt gegen Frauen als Waffe eingesetzt (SDG 16).

Durch Steuervermeidung und -hinterziehung (SDG 16) entgehen ärmeren Ländern dringend notwendige Einnahmen, um durch Investitionen in der Grundversorgung die Benachteiligung von Frauen und Mädchen zu beseitigen. Insbesondere Investitionen in bessere, zugängliche Wasserversorgung (SDG 6), Zugang zu barrierefreien öffentlichen Verkehrsmitteln und nachhaltigen, inklusiven Städten (SDG 11), welche sanitäre Bedürfnisse befriedigen und sichere öffentliche Räume garantieren, könnten die Situation der Frauen erheblich verbessern.

Frauen und Mädchen, die am wenigsten Zugang zu Ressourcen haben, sind häufig mehrfach von Ungleichheit und einander überschneidenden Formen von Diskriminierung betroffen (SDG 10), etwa aufgrund von Geschlecht, Alter, Klassenzugehörigkeit, Behinderung, Hautfarbe, Ethnizität, sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität und Migrationsstatus. So liegt etwa die globale Alphabetisierungsrate bei Frauen mit Behinderungen bei nur einem Prozent. Dieser Intersektionalität, oder überschneidenden Diskriminierungen, muss bei nachhaltiger Entwicklung besonders Rechnung getragen werden.

 

Das steht in der Agenda 2030

Geschlechtergleichstellung ist einerseits direkt im SDG 5 «Geschlechtergleichstellung erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigen» verankert, sowie mit vielen weiteren SDGs explizit verknüpft. SDG 5 umfasst die Beseitigung von Diskriminierung und Gewalt, Teilhabe und Chancengleichheit, sexuelle und reproduktive Gesundheit, Rechte über Vermögen und Eigentum, Gleichstellungspolitik, und fordert die Anerkennung von unbezahlter Pflege­ und Hausarbeit. Synergien lassen sich insbesondere mit der Armutsbekämpfung (SDG 1), der Bildung (SDG 4), einer menschenwürdigen Arbeit (SDG 8), weniger Ungleichheiten (SDG 10) sowie Frieden und Gerechtigkeit (SDG 16) herstellen.

Zielkonflikte entstehen insbesondere durch die Förderung des Wirtschaftswachstums (SDG 8), welches den Bereich der unbezahlten Care­Arbeit unberücksichtigt lässt. Aber auch das Ziel der vollen Integration der Frauen in den Berufsmarkt kann negative Auswirkungen auf die Gleichstellung, v. a. unter Frauen, haben. Care­Arbeit wird als Folge häufig an billige Care­Arbeiterinnen übertragen – ein Arbeitsmarkt, der noch ungenügend reguliert ist.

 

Und die Schweiz?

Die Gleichberechtigung zwischen allen Geschlechtern in der Schweiz ist noch nicht erreicht. Dies hat der nationale Frauen*streik 2019 eindrücklich gezeigt. Auf Gesetzesebene wurden durchaus Fortschritte erzielt:

Art. 8 der Bundesverfassung postuliert ein Gleichheitsgebot und Diskriminierungsverbot u.a. aufgrund des Geschlechts. Seit 1996 gibt es ein Gleichstellungsgesetz, 1997 wurde das UNO-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) von der Schweiz übernommen, und 2017 die Europaratskonvention zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention). 2014 ratifizierte die Schweiz die UNO-Behindertenrechtskonvention und verpflichtete sich dazu, die Situation für Frauen und Mädchen mit Behinderungen zu verbessern (Art. 6). Dennoch bleibt Benachteiligung oder Diskriminierung aufgrund des Geschlechts eine Realität für viele Frauen. Dies wurde auch wiederholt vom UNO-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung der Frau kritisiert. Obwohl politisch und von NGOs schon mehrfach gefordert, fehlt der Schweiz eine nationale Gleichstellungsstrategie. Verschiedene Einrichtungen zur Förderung der Gleichstellung werden auf nationaler oder auch kantonaler Ebene zurückgestuft oder gar abgeschafft.

 

Handlungsbedarf

Der Grundsatz der gleichen Teilhabe von Frauen im öffentlichen Leben auf allen Ebenen der Entscheidungsfindung ist seit Annahme der CEDAW-Konvention 1997 in der Schweiz verankert. Doch die Gleichstellung in Kultur, Wirtschaft und Politik ist noch lange nicht erreicht: Knapp ein Drittel der leitenden Funktionen an den Theatern der Deutschschweiz ist mit Frauen besetzt. Nur 3% Prozent der Geschäftleitungsmitglieder und 4% der Verwaltungsratsmitglieder in börsenkotierten Schweizer Unternehmen sind Frauen. Nach den Parlamentswahlen vergangenen Herbst stieg zwar der Anteil Frauen im Nationalrat zum ersten Mal auf über 40%. Doch in allen anderen Gremien, vom Ständerat über kantonale und städtische Parlamente und Regierungen, liegt der Frauenanteil jeweils nur zwischen 25 und 32%. Noch immer machen vor allem Männer Politik, obwohl ihre Entscheide für alle gelten. Frauen und Mädchen mit Behinderungen wird die Teilhabe besonders erschwert. In Politik und Öffentlichkeit sind sie kaum präsent.

Die systematische Untervertretung der Frauen im gesellschaftlichen Leben ist auf ein System struktureller Gewalt zurückzuführen: Gewalt gegen Frauen, hartnäckige Stereotypen und bewusste Überbelastung. Zahlen zu physischer Gewalt, sexueller Belästigung und Nötigung liegen vor. So tötet alle zwei Wochen ein Mann seine intime (Ex)Partnerin. Jede fünfte Frau in der Schweiz erlebt ungewollte sexuelle Handlungen. Frauen und Mädchen mit Behinderungen erleben im Vergleich zu Frauen und Mädchen ohne Behinderungen dreimal häufiger geschlechtsspezifische Gewalt. Dieses Umfeld wirkt sich negativ aus auf die Möglichkeit zur Teilhabe von Frauen. Stereotypen über typisch «weibliches» Verhalten sind nach wie vor weit verbreitet und werden in der Schule oder in der Werbung weiter verstärkt. Die Vorstellung, dass Frauen passiv und manipulativ sind, trägt dazu bei, dass die Gewalt gegen sie nicht ernst genommen wird. Ihre Darstellung als «sorgsame Wesen» zementiert, dass Frauen viel mehr unbezahlte und unterbezahlte Arbeit leisten.

Die Gleichstellung der Geschlechter und insbesondere das Prinzip «Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit» sind seit 1981 in der Bundesverfassung verankert. Trotzdem liegt der Stundenlohn von Frauen fast ein Fünftel tiefer als für Männer, und für gleichwertige Arbeit verdienen Frauen im Schnitt 7 bis 8% weniger als ihre Kollegen (SDG 8). Im Sommer 2020 treten die Änderungen im Gleichstellungsgesetz in Kraft, die der Lohndiskriminierung entgegenwirken sollen. Das Parlament hat jedoch auf Durchsetzungsinstrumente und Sanktionen verzichtet.

Verschärft wird die Einkommenssituation der Frauen dadurch, dass sie den grossen Teil der unbezahlten Care-Arbeit übernehmen und dafür oft auf ein eigenes Erwerbseinkommen oder einen Teil davon verzichten. Damit tragen sie nach einer Scheidung oder im Rentenalter ein grosses Armutsrisiko (SDG 1). Die durchschnittliche Altersrente der Frauen liegt ein Drittel unter derjenigen der Männer: Die einzige Schweizer Altersvorsorge, die Frauen und Männer gleichstellt, ist die AHV, da sie die unbezahlte Betreuungsarbeit bei der Rentenberechnung berücksichtigt. Frauen mit Behinderung partizipieren massiv weniger am ersten Arbeitsmarkt und sind deshalb einem deutlich höheren Risiko für Altersarmut ausgesetzt.

Entlastung gibt es für Menschen mit Care-Verantwortung in der Schweiz wenig: Der Mutterschaftsurlaub ist mit 14 Wochen rekordmässig kurz. Die Erhöhung des Vaterschaftsurlaubs von einem Tag auf 2 Wochen wird mit einem Referendum bekämpft. Elternzeit ist hierzulande noch ein Fremdwort.

Die Betreuung von Kindern und pflegebedürftigen Angehörigen wird in der Schweiz als Privatsache behandelt: So ist der Anteil, den die Eltern für die Betreuung ihrer Kinder zahlen, sehr viel höher als im europäischen Ausland. Für die Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger zu Hause gibt es maximal Ergänzungsleistungen. Viele weichen auf die Unterstützung von sogenannten Pendel- oder Care-Migrantinnen aus. Die Arbeit in Privathaushalten untersteht jedoch nicht dem Arbeitsgesetz: Prekäre Arbeitsbedingungen mit überlangen Präsenzzeiten zu schlechten Löhnen sind die Folge (SDG 8).

Die Coronakrise zeigt, welch grosse Verantwortung Pflegeberufe tragen. Die Sorge um Mitmenschen ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung, die entsprechend – mit staatlichen Mitteln – zu honorieren ist.

 

Das fordern wir
  • Die Schweiz muss ihren Verpflichtungen nachkommen und die von ihr ratifizierten internationalen Übereinkommen umfassend und ohne Diskriminierung umsetzen.
  • In der Erarbeitung der Nationalen Strategie für die Gleichstellung sind Zivilgesellschaft und Gleichstellungsbüros aktiv einzubeziehen.
  • Gleichstellungsbüros müssen in ihrer hierarchischen Position und ihren Einflussmöglichkeiten aufgewertet werden und benötigen eine angemessene und langfristige Finanzierung.
  • Um Gleichstellung in Politik, Wirtschaft und Kultur zu erreichen, braucht es Frauenquoten für alle politischen Ämter sowie für Führungspositionen in Wirtschaft und Kultur.
  • Die Schweiz muss einen Aktionsplan zur Beseitigung geschlechtsspezifischer Gewalt und häuslicher Gewalt ausarbeiten und umsetzen.
  • Um den Stereotypen über typisch «weibliches» Verhalten und der Darstellung von Frauen als «sorgsame Wesen» in Schule, Werbung und Medien entgegenzuwirken sind Aktionspläne, Kampagnen und gesetzliche Regelungen auszuarbeiten.
  • Um die Lohndiskriminierung bis 2030 zu beheben braucht es griffige Massnahmen, Kontrollen und Sanktionen.
  • Die Arbeit in Care-Berufen muss aufgewertet werden. Die zur Verfügung stehenden staatlichen Mittel sind auszubauen.
  • Bezahlte und unbezahlte Arbeit muss fair auf alle Geschlechter verteilt werden. Dafür sind entsprechende Rahmenbedingungen zu schaffen, die Zeit und Energie lassen für unbezahltes Engagement: kürzere Normarbeitszeiten, anständige Löhne, der Ausbau von Vaterschafts- und Mutterschaftsurlaub, Elternzeit und finanzierbare Kinderbetreuung.
  • Die Arbeit in Privathaushalten (Care-Migrantinnen) gehört dringend dem Arbeitsgesetz unterstellt.
  • Auf nationaler und internationaler Ebene müssen sich überschneidenden Diskriminierungen besonders Rechnung getragen werden. Es ist sicherzustellen, dass marginalisierte Gruppen nicht ausgeschlossen werden.
Die Agenda 2030 und ihre 17 Ziele

Mit der Agenda 2030 und ihren 17 SDGs hat sich die Staatengemeinschaft 2015 auf eine Zukunftsvision einer Welt in Frieden geeinigt, in der niemand Hunger leiden muss, die Ökosysteme an Land und im Wasser geschützt sind und Konsum und Produktion die planetaren Grenzen nicht überschreiten. Aufbauend auf der Erklärung und Aktionsplattform von Beijing sowie dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) stellt die Agenda 2030 klar: Entwicklung wird nur nachhaltig sein, wenn ihr Nutzen allen Geschlechtern zugutekommt.

 

Quellen:

Turning promises into action: Gender equality in the 2030 Agenda for Sustainable Development, UN Women 2018. https://www.unwomen.org/en/digital-library/sdg-report

Sexuelle Gewalt an Frauen in der Schweiz. Amnesty International 2019: https://www.amnesty.ch/de/themen/frauenrechte/sexuelle-gewalt/dok/2019/sexuelle-gewalt-in-der-schweiz-neue-repraesentative-zahlen

Weiterführende Links:

www.postbeijing.ch

Die Webseite der NGO-Koordination post Beijing Schweiz

www.sgb.ch/themen/gleichstellung

Die Webseite des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes zu Gleichstellung

www.agenda2030.admin.ch

Die offizielle Anlaufstelle des Bundes für Informationen zur Agenda 2030