Agenda 2030 und Ernährungssysteme

Daniel Langmeier, Biovision | Eva Schmassmann, Plattform Agenda 2030 | Simon Degelo, Swissaid

November 2021

Jede zehnte Person weltweit leidet Hunger. Die Corona-Pandemie hat den bereits davor bestehenden Anstieg an unterernährten Menschen verstärkt (FAO 2020). Zusätzlich finden mehr als 2 Milliarden Menschen zumindest gelegentlich nicht ausreichend gesundes und nahrhaftes Essen. 2019 waren weltweit 150 Millionen Kinder unter 5 Jahren mangelernährt. Damit hat ein Drittel der Weltbevölkerung keinen gesicherten Zugang zu ausreichender und gesunder Ernährung. Die Ursache liegt nicht in einer zu geringen Produktion an Nahrungsmitteln. Weltweit werden genügend Kalorien zur Ernährung auch einer wachsenden Weltbevölkerung produziert.

Allerdings wird ein grosser Teil nicht für Nahrung, sondern für Viehfutter, Bioenergie und industrielle Rohstoffe genutzt, mit steigender Tendenz. Nur 55% der weltweiten Anbaufläche dient direkt der menschlichen Ernährung. Auf 36% wird Tierfutter angebaut, die Ernte von 9% landet als Biodiesel im Tank. Ursachen für Hunger finden wir in der Armut und Ungleichheit, bewaffneten Konflikten, sozialen und wirtschaftlichen Krisen sowie im Klimawandel. Um den Hunger und die Mangelernährung zu beseitigen, müssen wir die Ernährungssysteme ganzheitlich betrachten und mit Blick auf nachhaltige Produktion, faire Verteilung und Menschenrechte transformieren.

Und die Schweiz?

Die Schweiz importiert rund die Hälfte ihrer Lebensmittel und Futtermittel aus dem Ausland. Unser Ernährungs-Fussabdruck belastet somit in hohem Mass andere Länder. Der Import von Nahrungsmitteln aus trockenen Zonen trägt dort zu Wasserknappheit bei. Wenig geschützte Arbeiter*innen bezahlen mit teilweise sklavenähnlichen Arbeitsbedinungen den Preis für unsere billig importierten Produkte.

Im Vergleich zu anderen Ländern konsumieren wir in der Schweiz sehr viel Fleisch. Dies ist insbesondere aus Klimasicht problematisch. Der Fleischkonsum wird über Subventionen sogar staatlich gefördert: Der Branchenverband Pro Viande erhält pro Jahr rund 5.5 Millionen vom Bund für Fleischwerbung. Für Gesundheit und Klima sollte der Fleischkonsum in der Schweiz jedoch um zwei Drittel sinken.

All dies ist umso empörender, als ein Drittel dieser Lebensmittel nie den Weg in unseren Magen findet. In der Schweiz werden pro Jahr 2.8 Millionen Tonnen an Lebensmitteln entsorgt (Food Waste), das ist pro Person 1 kg pro Tag! Oft sehen wir diese Lebensmittelverluste gar nicht, da kleine Früchte bereits in der Landwirtschaf aussortiert werden, Gemüse beim Transport beschädigt wird, Innereien aussortiert werden, oder frische Backwaren abends im Regal liegen bleiben.

Die Schweiz hat eine besondere Verantwortung als globaler Handelsplatz für Agrarprodukte und Agrar-Inputs. So wird mindestens die Hälfte des weltweit gehandelten Getreides und jede dritte Kaffeebohne über die Schweiz gehandelt. Nestlé als weltgrösster Nahrungsmittelkonzern hat ihren Sitz in der Schweiz. Mit OCP (Office Chérifien des Phosphates) vertreibt der weltweit wichtigste Anbieter von Phosphaten seine Dünger über ein Schweizer Tochterunternehmen. Und mit Syngenta hat einer der grössten Konzerne für Pestizide und Saatgut seinen Sitz in der Schweiz. Die Schweiz ist unter anderem wegen ihren massgeschneiderten Steuerregimes und laxen Vorschriften für Unternehmensverantwortung, sowie wegen ihrem Beharren auf strikten intellektuellen Eigentumsrechten auf Saatgut attraktiv für diese Firmen.

Das steht in der Agenda 2030

Gemäss SDG 2 soll «der Hunger beendet, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreicht und eine nachhaltige Landwirtschaft gefördert werden». Um den Hunger zu beenden ist nicht nur die Kalorienzahl ausschlaggebend, sondern auch die Inhaltsstoffe der Nahrung. Ein voller Magen mit einseitiger Ernährung führt zu Mangelerscheinungen, die sich auf die schulische Leistung (SDG 4 Bildung) und damit auch das spätere Einkommen auswirken – eine Hungerspirale (SDG 1 Armut). Im Zuge der Globalisierung verbreiten sich verarbeitete Lebensmittel mit hohem Zucker und Salzgehalt weltweit und behindern den Kampf gegen nicht-übertragbare Krankheiten wie Krebs, Diabetes und Herz-Kreislauferkrankungen (SDG 3 Gesundheit).

Ein nachhaltigs Ernährungsssystem leistet einen wichtigen Beitrag zu verschiedenen SDGs. So gewährleistet es gute Arbeitsbedingungen und ein existenzsicherndes Einkommen (SDG 8 Arbeit in Würde), und trägt damit zur Armutsreduktion bei (SDG 1 Armut). Es erhält die Biodiversität, indem es die Sortenvielfalt bewahrt, die Bodenqualität erhöht und die Ökosysteme schützt (SDG 6 Sauberes Wasser, SDG 14 Ökosysteme im Meer, SDG 15 Ökosysteme an Land). Es reduziert den Treibhausgasaustoss und ermöglicht eine bessere Anpassungsfähigkeit an den Klimawandel und zunehmende Extremereignisse wie Dürren, Überschwemmungen und anderen Katastrophen (SDG 13). Eine nachhaltige Produktion ohne schädliche Pestizide trägt zu einer gesunden Umwelt und damit zur Gesundheit allgemein bei (SDG 3). Faire Handelsbedingungen (SDG 17) und eine gerechte Beteiligung am Erlös aus der Nutzung traditionellen Wissens können die bestehenden Ungleichheiten zwischen den Ländern vermindern (SDG 10). SDG 12 (nachhaltige Produktion und Konsum) stellt explizit die Verbindung her zwischen Produktion und Konsum und setzt das Ziel, die Nachernteverluste und den Food Waste zu halbieren.

Im Sinne von Partizipation und Mitsprache ist es ausserdem zentral, dass Kleinbäuer*innen und die ländliche Bevölkerung die Ernährungssysteme aktiv mitgestalten können (SDG 16 inklusive Gesellschaften) und ihre Rechte geschütz werden, wie sie in der UNO Deklaration für bäuerliche Rechte (UNDROP) verankert sind.

Spannungsfelder

Die Herausforderung in der Agenda 2030 liegt darin, gemeinsam Lösungen zu finden in einer komplexen Realität mit sich zum Teil widersprechenden Sektorinteressen. Im Folgenden sprechen wir drei dieser Spannungsfelder an.

Eine Transformation unserer Ernährungssysteme ist dringend. Gleichzeitig wollen wir inklusive, demokratische Entscheidungsprozesse gewährleisten. Wie schaffen wir es, in nützlicher Frist eine gemeinsame Vision zu definieren und die notwendigen Massnahmen zu realisieren? In verschiedenen Städten wird experimentiert mit neuen Formen der Beteiligung, z.B. das Ernährungsforum in Bern oder Zürich. Angesichts der grossen Marktmacht von wenigen Einzelakteuren gilt es, kleinbäuerliche Strukturen zu stärken und die Vielfalt der Akteure von Produktion über Verarbeitung bis Konsum einzubeziehen. Innovation ist nicht nur im Anbau, sondern auch in den Formen der Beteiligung notwendig.

Nachhaltig produzierte Nahrungsmittel haben einen Wert, und damit auch ihren Preis. Heute werden viele negative Auswirkungen auf die Allgemeinheit abgewälzt, sogenannte Externalitäten. Dazu gehört z.B. die Belastung von Trinkwasser mit Pestiziden, gesundheitliche Folgen beim Sprühen von giftigen Pestiziden oder Insektiziden, der Verlust von Artenvielfalt und damit reduzierte Ökosystemdienstleistungen. Die Transformation hin zu nachhaltigen Ernährungssystemen muss sozial gerecht gestaltet werden. Einfach die Externalitäten in die Preise einzurechnen ist in einer Welt mit Armut keine Lösung. Ziel muss sein, dass sich alle gesunde, nachhaltige Ernährung leisten können.

Konsument*innen können durch ihr Verhalten das Angebot nachhaltig beeinflussen. Doch ist es schlicht unmöglich, alle für einen nachhaltigen Kaufentscheid notwendigen Informationen im Blick zu behalten. Wir sind täglich Hunderten von Werbebotschaften ausgesetzt, die zum Konsum nicht nachhaltiger, teilweise auch ungesunder Produkte verführen wollen. Werbung suggeriert, dass Fleisch von glücklichen Tieren auf der grünen Weide stammt. Die Wahrheit sieht leider oft anders aus. Die Sensibilisierungs- und Bildungskampagnen der öffentlichen Hand für gesunde Ernährung kommen dagegen nicht an.

Lösungsansätze

Während die Herausforderungen immens erscheinen, ist in den letzten Jahrzehnten auch unser Wissen um Lösungsansätze gestiegen. Vor über 10 Jahren hat der Weltagrarbericht den Weg vorgezeigt und den Ernährungssystemansatz populär gemacht. Seither zeigt die praktische Erfahrung sowie Erkenntnis aus der Wissenschaft, dass eine agrarökologische Landwirtschaft funktioniert, Kleinbäuerinnen und Kleinbauern stärkt und ihre Rechte genauso wie die Umwelt und die Biodiversität schützt. Mit den 10 Elementen der Agrarökologie der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der UNO (FAO) und mit der UNO-Deklaration für bäuerliche Rechte (UNDROP) ist diese Erkenntnis inzwischen auch auf dem internationalen Parkett angekommen.

Der Systemanstatz bedeutet auch, dass nicht nur die Landwirtschaftspolitik in der Verantwortung steht. Es braucht das kohärente Mitwirken von Umwelt-, Gesundheits-, Bildungs-, Handelspolitk und mehr. Die Schweizer Agrarpolitik ist seit dem Scheitern der «Agrarpolitik ab 2022» im Parlament blockiert. Der Ständerat fordert nun den Bundesrat auf, seine Agrarpolitik in Richtung einer ganzheitlichen Politik für gesunde Ernährung und nachhaltige Lebensmittelproduktion zu erweitern.

Über Forschungsgelder und Investionen werden die Ernährungssysteme der Zukunft definiert. Wenn die Gelder Richtung Konzentration, Industrialisierung und Mechanisierung der Landwirtschaft fliessen, werden wir keine nachhaltigen, vielfältigen und widerstandsfähigen Systeme aufbauen, welche Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten für die Millionen Kleinbäuerinnen und Kleinbauern erhalten und schaffen.

Bund, Kantone und Gemeinden können darüber hinaus mit gutem Beispiel vorangehen: In Kantinen an öffentlichen Einrichtungen wie Spitälern, Altersheimen, Schulen und Universitäten, und in in bundesnahen Betrieben wie den SBB. Alleine in Alters- und Pflegeheimen werden täglich 100’000 Personen verpflegt, Personal ausgenommen. Durch eine konsequente Umstellung auf fleischärmere Kost und eine regionalere und nachhaltigere Beschaffung, hat die öffentliche Hand einen grossen Hebel, um unsere Ernährunssysteme nachhaltiger zu machen.

Das fordern wir
  • Subventionen
    Subventionen müssen konsequent auf Nachhaltigkeit ausgerichtet werden. Nicht nachhaltige Subventionen, z.B. mit negativen Auswirkungen auf die Biodiversität oder zur Förderung des Fleischkonsums müssen gestoppt werden. Stattdessen sollen agrarökologischen Anbaumethoden, welche Kleinbäuer*innen stärken und die Vielfalt fördern, gefördert werden.
  • Forschungsgelder
    Forschungsgelder sollen neu ausgerichtet werden auf den Erhalt und die Förderung von agrarökologischen Ernährungssystemen.
  • Entwicklungszusammenarbeit
    Die Schweiz setzt sich in den internationalen Organisationen und in der von ihr finanzierten Entwicklungszusammenarbeit für einen agrarökologischen Wandel der Ernähtungssysteme und die bäuerlichen Rechte ein.
  • Gesundheit und Werbung
    Die Schweiz reguliert die Verbreitung gesundheitsschädigender verarbeiteter Lebensmittel und verbietet Werbung für diese.
  • Partizipation aller Akteure
    Die neue Ernährungspolitik soll unter Einbezug der Menschen, welche im Ernährungssystem als Konsumentinnen, Detailshandelsangestellte, Bäuerinnen oder Gastronomen agieren erarbeitet werden.
  • Vorbild öffentliche Hand
    Öffentlichen Einrichtungen (Schulen, Hochschulen, Kitas, Krankenhäuser) und staats-nahe Betriebe (SBB…) bieten nachhaltiges, gesundes Essen an, basierend auf den Empfehlungen der Ernährungspyramide. Letztere soll dabei anhand der neusten wissenschaftlichen Erkenntnisse überarbeitet werden.
  • Exportverbot für Pestizide
    Die Schweiz verbietet den Export von und den Handel mit hochgiftigen Pestiziden, welche in der Schweiz und in der EU verboten sind und setzt sich für deren internationale Ächtung ein
  • Saatgutvielfalt als bäuerliches Recht
    Die Schweiz setzt sich für eine Reform der internationalen Standards für intellektuelle Eigentumsrechte auf Saatgut ein, so dass die bäuerlichen Rechte gewahrt werden. Sie zwingt in ihren Handelsverträgen ihre Partner nicht zu restriktiveren Bestimmungen als sie in der Schweiz gelten.
  • Keine Patente auf Pflanzen
    Die Schweiz anerkennt keine Patente auf Pflanzen, welche mittels konventioneller Züchtung gewonnen wurden. Sie setzt sich beim Europäischen Patentamt dafür ein, dass solche nicht mehr vergeben werden, bzw. bereits vergebene Patente sistiert werden.
Weiterführende Links und Quellen

FAO, IFAD, UNICEF, WFP and WHO. The State of Food Security and Nutrition in the World 2021. Transforming food systems for food security, improved nutrition and affordable healthy diets for all. Rome, FAO. 2021.

Caritas: Almanach Entwicklungspolitik 2021: Wege aus der Ernährungskrise. Luzern, 2020.

«Wir brauchen Pioniere». Interview mit Landwirt Markus Schwegler. www.biovision.ch

Swiss Academies Fact Sheet Vol.15, No 1, 2020: Vielfalt ist die Quelle des Lebens: Herausforderungen und Handlungsbedarf für die Förderung der Agrobiodiversität

C. Dommen, Ch. Golay. Research Bief: Switzerland’s Foreign Policy and the United Nations Declaration on the Rights of Peasants. Geneva Academy. August 2020

www.Swissaid.ch | Unsere Schwerpunkte | Agroökologie

Die Agenda 2030 und ihre 17 Ziele

Mit der Agenda 2030 und ihren 17 SDGs hat sich die Staatengemeinschaft 2015 auf eine Zukunftsvision einer Welt in Frieden geeinigt, in der niemand Hunger leiden muss, die Ökosysteme an Land und im Wasser geschützt sind und Konsum und Produktion die planetaren Grenzen nicht überschreiten. Wie wir uns ernähren, unsere Nahrung produzieren, verarbeiten und transportieren hat ei-nen massgeblichen Einfluss auf die Erreichung der 17 Ziele.